erzlich Willkommen liebe Freunde der Schutz- und Leittechnik! Heute zeige ich Euch an einem realen Praxisbeispiel, welchen Effekt der Einschaltstrom eines Trafos auf den Differentialschutz haben kann, obwohl eine Einschaltstabilisierung aktiviert ist. Zusätzlich gibt es wertvolle Informationen zum Thema Einschaltrush und am Ende zeige ich Euch worauf zu achten ist und wie die Crossblock-Funktion der Oberschwingungssperre im Idealfall behandelt wird. Los geht's:
Das Problem:
Beim Einschalten des 400 kV Netzleistungschalters wurden insgesamt 4 Transformatoren gleichzeitig zugeschaltet. Der daraus resultierende Einschaltstrom führte zur Auslösung der Differentialschutzfunktion des Eigenbedarfstrafos BBT03, obwohl eine Einschalt-Stabilisierung im Schutzgerät 7UT513 aktiviert war.
Die Anordnung:
Wir befinden uns in einem thermischen Kraftwerk in Deutschland. Die Anordnung beinhaltet einen 500 MW Generator im Blockbetrieb mit einem Maschinentransformator, 3 Eigenbedarfstrafos und ein angrenzendes 400 kV Übertragungsnetz. Die folgende Abbildung gibt einen Überblick über die Konfiguration:
Der 500 MW Generator und die Generatorableitung (GAL) haben eine Nennspannung von 20 kV, die Unterspannungsseiten der drei Eigenbedarfstrafos haben eine Nennspannung von 10 kV. Die dritte Spannungsebene im Modell wird durch das 400 kV Übertragungsnetz repräsentiert.
Das Szenario:
Zum Zeitpunkt vor der Schalthandlung befand sich der Generator im Stillstand (GLS AUS), die 10 kV Einspeisungen der 10 kV Sammelschienen der Eigenbedarfstransformatoren waren ebenfalls AUS-geschaltet. Durch Einschaltung des Netzleistungsschalters (NLS) sollte nun die Vorschaltung der vier Transformatoren BAT10, BBT01, BBT02 und BBT03 erfolgen. Der aus der Zuschaltung resultierende Einschaltstrom führte zur Schutzauslösung des 7UT513 des BBT03, obwohl eine Einschaltstabilisierung im Schutzgerät aktiv gewesen ist.
Der Einschalt-Rush in Theorie und Praxis:
Die Zuschaltung von Transformatoren zieht Einschaltströme nach sich. Diese sind in erster Linie von der Leistung der zugeschalteten Transformatoren abhängig. Bei kleineren Trafos können die sogenannten Inrush-Ströme Werte von bis zum 14-fachen des Trafo-Nennstromes erreichen, klingen allerdings innerhalb weniger Millisekunden wieder ab. Bei größeren Transformatoren liegen Einschaltströme in der Regel im Bereich einiger hundert Millisekunden. Die Form des Stromverlaufes wird vor allem durch die Vormagnetisierung (Remanenz) und den Einschaltzeitpunkt geprägt. Das folgende Diagramm gibt eine Abschätzungsmöglichkeit über die ungefähre Größenordnung von Inrush-Vorgängen (Die Abbildung stammt aus dem Buch "Die Bibel der Generator-Schutztechnik").
Im weiteren zeitlichen Verlauf klingen die Amplituden des Inrush-Stromes auf den stationären Magnetisierungsstrom ab. Da der Inrush sinusförmige Halbwellen mit 180° Unterbrechungen aufweist sind insbesondere die geradzahligen Halbwellen stark ausgeprägt. Diese Charaktereigenschaft wird nun innerhalb der Schutzrelais-Algorithmen genutzt, um mittels signifikanter 100-Hz-Anteile auf einen Einschaltvorgang zu schließen und die Einschaltstromstabilisierung freizugeben.
Das Schutzsystem:
Der abgebildete Eigenbedarfstrafo BBT03 verfügt über ein digitales Differential-Schutzgerät der Firma Siemens. Dabei handelt es sich um ein Siprotec 7UT513 mit 3 Seiten (Dreiwickler-Trafo). Das Gerät ist auf allen drei Seiten mit 2500 / 1 A Stromwandlern eingebunden (5P20 bei 20 VA) und folgendermaßen parametriert:
🌐 I Diff > = 0,3 I/Ib
🌐 t Diff > = 0 s
🌐 I Diff >> = 10 I/Ib
🌐 t Diff >> = 0 s
🌐 I Stab Fußpunkt 1 = 0 I/Ib
🌐 Anstieg 1 = 0,25
🌐 I Stab Fußpunkt 2 = 2,5 I/Ib
🌐 Anstieg 2 = 0,5
🌐 Block durch 100 Hz (2. Harmonische) = 15 %
🌐 Block durch 250 Hz (5. Harmonische) = 30 %
🌐 Rückfallzeit = 0,2 s
🌐 Crossblocking = NEIN
In der folgenden Abbildung sehen wir die resultierende Kennlinie:
Durch die galvanische Kopplung aller mit der Generatorableitung verbundenen Betriebsmittel (alle Trafos plus Generator) führt die Auslösung des BBT03-Differentialschutzes zur Stillsetzung des gesamten Kraftwerksblockes, also zur Auslösung aller 10 kV Schalter, des Generatorleistungsschalters sowie des Netzleistungsschalters.
Die Analyse:
Schauen wir uns den aufgezeichneten Störschrieb genauer an. Im folgenden Bild sehen wir zunächst den Kurvenverlauf des Einschaltstromes, gemessen auf der 20-kV-Seite des BBT03.
Der größte Peak ist in Phase L2 zu beobachten, hier schafft es der Inrush mit 4 kA auf den 3-fachen Nennstrom des Transformators. Der gesamte Stromverlauf dauert in etwa 300 ms. Schön zu erkennen ist der um 180° lückende Verlauf der drei Phasenströme. Hieraus resultiert, wie eingangs beschrieben, die 100 Hz Komponente. Das Schutzrelais verfügt über eine Einschaltsperre, welche ab 15 % der 2. harmonischen (100 Hz) die Auslösung blockiert. Es gilt also die wichtige Frage zu klären:
Warum hat die Einschaltstabilisierung nicht stabilisiert?
Schauen wir uns zunächst den Differentialstrom an:
Es ist ein ausgeprägter Diff-Strom in den beiden Phasen L2 und L3 ersichtlich (grün und violett). Wichtig ist es nun zu sehen, wie sich diese Verläufe im Verhältnis zum Stabilisierungsstrom verhalten und ob der Auslösebereich der Differentialschutzkennlinie erreicht wird. Dazu schauen wir uns in den folgenden beiden Videos die Diff/Stab-Ortskurven im zeitlichen Verlauf an.
Im folgenden Video seht Ihr die Verläufe nochmal im größeren Zoom:
Es ist unschwer zu erkennen, dass die Diff-Stab-Verläufe der beiden Phasen L2 und L3, auf der inneren Fehlerkennlinie liegend, weit im Auslösebereich der Diff-Stab-Kennlinie liegen. Zudem ist ersichtlich, dass auch die Werte von Phase L1 leicht in den Auslösebereich hineinreichen. Zurück also zu unserer wichtigen Frage:
Warum hat die Einschaltstabilisierung nicht stabilisiert?
Schauen wir uns dazu die 2. Harmonische an:
Die 100-Hz-Anteile der Phasen L1 und L3 (gelb und violett) liegen mit sicherem Abstand über dem Einstellwert von 15 %. Bei der Phase L2 sieht das allerdings anders aus. Nachdem der allererste Peak vorüber ist, wird der Ansprechwert für die Einschaltstabilisierung für die folgenden 5 Netzperioden (ca. 100 ms) zyklisch unterschritten. Hier passiert es. Da der Differentialschutz inklusive Einschaltstabilisierung für jede Phase autark arbeitet, wird durch die Nichterfüllung des 15-%-Kriteriums in Phase L2 die Blockierung der Auslösung unwirksam. Das Schutzgerät löst erwartungsgemäß aus.
Durch die Aktivierung der Crossblocking-Funktion hätte diese unerwünschte Auslösung verhindert werden können. Mit aktivierter Crossblocking-Funktion führt das Überschreiten des Ansprechwertes der Einschaltstabilisierung in nur einer Phase zur Blockierung aller Phasen. Die nachstehende Abbildung zeigt den logischen Unterschied zwischen inaktiver und aktiver Crossblocking-Funktion.
Nun könnte man meinen: "Crossblocking aktivieren und fertig ist die Sache". So einfach ist es leider nicht. Wir müssen uns vor Augen halten, dass die häufigsten Trafofehler im Einschaltmoment entstehen. Es besteht nun die große Gefahr, dass die Aktivierung der Crossblock-Funktion zur Unterfunktion bzw. zum Schutzversagen führt. Denn wie erwähnt, wenn eine der drei Phasen mehr als 15 % der 2. Harmonischen führt bzw. den eingestellten Schwellwert erreicht, werden die Auslösungen aller anderen Phasen ebenfalls blockiert. Diesem Umstand Rechnung tragend, sind moderne digitale Relais in der Lage, die Crossblocking-Funktion für einen bestimmten Zeitbereich zu begrenzen. In unserem Beispiel hätte eine Crossblocking-Aktivierung für 5 Netzperioden bereits zur erfolgreichen Stabilisierung des Differentialschutzes geführt. Beim Zuschalten auf einen Kurzschluss bzw. bei einem Kurzschlussereignis im Einschaltmoment würden diese wertvollen 5 Netzperioden allerdings zur Fehlerklärungszeit dazu kommen. 100 ms mehr oder weniger können bei größeren Öltransformatoren bereits das "Zünglein an der Waage" sein.
In unserem praktischen Fall viel die Entscheidung nicht sonderlich schwer. Da das 7UT513 aus unserem Beispiel noch nicht über die zeitliche Begrenzung der Crossblocking-Funktion verfügte, haben wir uns gegen die Aktivierung der Crossblocking-Funktion entscheiden.
Es ist mit viel Augenmaß abzuwägen, wie wichtig stabilisiertes Einschalten mittels Crossblocking ist und welche Verzögerung dafür gewählt wird. Mein Tipp: Im Zweifel sollte die Crossblocking-Funktion immer deaktiviert bleiben, zumindest sollte ihr aber mit Respekt begegnet werden. Wird die Crossblocking-Funktion aktiviert, dann sollte man unbedingt auf eine kurze zeitliche Begrenzung der Funktion achten und auf eine sinnvolle Einstellung der I Diff >> Stufe, welche ja nicht von der Einschaltstabilisierung betroffen ist.
Die Alternative ist unter Umständen das Verlieren wertvoller Fehlerklärungszeit bis hin zum totalen Versagen der Hauptschutzfunktion hochwertiger Primärkomponenten. Als Servicedienstleister ist es zudem sinnvoll, den Anlagenbetreiber und / oder Lieferant in die Entscheidung mit einzubeziehen.
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