erzlich Willkommen liebe Freunde der Schutz- und Leittechnik. Heute freuen wir uns über einen spannenden Gastbeitrag zum Thema "Reserveschutz in offenen Ringnetzen". Unser heutiger Gastautor Sören Sturm ist Teamleiter der Service Strom bei der wesernetz Bremen GmbH und ein exzellenter Fachmann.
Viel Spaß beim lesen, wir übergeben an Sören Sturm.
Reserveschutzproblematik in offenen Ringnetzen
Häufig werden Mittelspannungsnetze als offene Ringnetze betrieben. Vor allem im städtischen Bereich sind diese Strukturen sehr oft anzutreffen.
Dabei werden die offenen Ringe aus einem Umspannwerk oder einer Schwerpunktstation versorgt. Der Schutz eines Halbrings erfolgt lediglich von diesem Punkt aus. Besonderes Augenmerk muss hierbei auf die Einhaltung der Reserveschutzfunktion der einspeisenden Schalter gelegt werden.
In unserem Beispiel speisen wir das Ringnetz über einen 40 MVA 110 / 10 kV Umspanner ein. Die 10 kV Sammelschiene speist dann wiederum mehrere Ringnetze. Der Leistungsschalter des Umspanners übernimmt die Reserveschutzfunktion bei Schutz- oder Schalterversager eines Halbringes.
Bei einer einfachen Stromstaffelung erkennt nun jeder Schutztechniker das Thema. Der minimale Kurzschlussstrom, bei ungünstigster Konstellation des offenen Ringes, muss noch sicher über dem Auslöseniveau des Umspannerleistungsschalters liegen.
Im folgenden Beispiel machen wir die Problematik an realen Zahlen fest:
Aus dem Umspannwerk werden die Halbringe A und B direkt versorgt. Halbring A (rechts im Bild) ist ca. 6 und Halbring B ca. 4 km lang. Im ungünstigsten Fall liegt der Ikmin 2 polig bei 3,5 kA (siehe Abbildung).
Dieser minimale Kurzschlussstrom reicht zur Anregung des 10 kV-seitigen Umspannerschutzes aus, auch wenn der Ansprechsicherheitsfaktor für den Reserveschutz besser bei 1,5 liegen sollte (liegt in unserem Fall bei 1,25). In dieser Konstellation kann noch von einem funktionierenden Reserveschutz für die 10 kV Leistungsschalter ausgegangen werden.
Der ungünstigste Fall ist meistens dann gegeben, wenn der komplette Ring einseitig eingespeist wird, z.B. im Rahmen einer Leistungsschalterwartung im Umspannwerk. Je nach Kabeltyp und verlegten Querschnitten können die minimalen Kurzschlussströme bei Kabellängen von ca. 8 -10 km schon im Bereich des Nennstromes des Umspanners liegen.
Im folgenden sehen wir eine solche "worst-case" Berechnung für das vorangegangene Beispiel:
Im vorliegenden Wartungszustand liegt der minimale Kurzschlussstrom sogar unter dem Betriebsstrom der Einspeisung. Hier kann mit einer klassischen Überstromstufe kein sinnvoller Einstellwert für den Reserveschutz gefunden werden.
Nun kann ma ja sagen: OK, es gibt aber noch andere Methoden der Erkennung von stromschwachen Kurzschlüssen, wie z.B. die Impedanzanregung oder die spannungsabhängige Überstromanregung. Insbesondere bei städtischen Kabelnetzen werden allerdings auch da Grenzen für vernünftige Einstellwerte erreicht. Im Umspannwerk ist der Spannungseinbruch oft nur gering. Last- und Fehlerwinkel lassen sich wegen der Kabelimpedanzen oftmals kaum unterscheiden.
Im schlechtesten Fall stehen bei unserem Beispiel dem Reserveschutz Daten der folgenden Größenordnung zur Verfügung:
Ik = 2,1 kA
Zk = 2,06 Ω phi = 27°
ULLmin= 9,1 kV
Es gibt mehrere Möglichkeiten um dieses Problem in den Griff zu bekommen, hier 4 Vorschläge:
1. Die Ringe werden so gebaut, dass der minimale Kurzschlussstrom immer sicher über dem Auslösestrom des Umspanners liegt. Prinzipiell liegt hier der Nachteil darin, dass sich die Primärtechnik der Sekundärtechnik anpassen muss. Entweder müssen die Netze entsprechend klein bzw. kurz gehalten werden oder sehr große, für den normalen Betrieb eigentlich gar nicht notwendige Querschnitte, kommen zum Einsatz.
2. Der entsprechend große Halbring wird in zwei Schutzabschnitte aufgeteilt. Auf dem neu entstandenen Halbring muss eine zusätzliche Station inklusive Leistungsschaltern und Schutztechnik installiert werden. Auch hier handelt es sich um keine rein sekundäre Lösung und die Primärtechnik muss erweitert werden.
3. Es wird ein zusätzlicher Leistungsschalterversagerschutz eingesetzt. Allerdings nützt dieser bei einem Schutzrelaisversagen im Abgang nicht.
4. Maximale Anpassung der Schutztechnik? Was habt ihr für Ideen?
Falls jetzt die Frage aufkommt, ob für einen so seltenen Fall eines Schutz- oder Leitungsschalterversagers dieser Aufwand gerechtfertigt ist, muss man sich über die Folgen eines Systemversagens Gedanken machen.
Ein zweipoliger Fehler, mehrere Kilometer vom Umspannwerk entfernt, ist für den Schutz des Umspanners oft nur ein hoher Betriebsstrom. Wenn nun der Schutz oder der Leistungsschalter im Kabelabgang versagt, ist erst einmal eine Ausweitung zum dreipoligen Kurzschluss wahrscheinlich. Dadurch kann unter Umständen der Ansprechwert der Reservestufe in der Einspeisung erreicht werden und alles wäre gut.
Und was wenn nicht? Bei alten Dreileiter-Bleimantelkabeln brennt der Kurzschluss innerhalb sehr kurzer Zeit soweit zurück, bis das Auslöseniveau erreicht wird. Wie verhält es sich aber mit heute üblichen VPE Kabeln?
Erreicht ein Kurzschluss dann die Schaltanlage der Netzstation, ist ein Brand die sehr wahrscheinliche Folge.
Die Schaltanlagen der Netzstationen werden komplett überlastet und dass theoretisch über Minuten. Die gesamte Kabelanlage vom UW bis zum Fehlerort wird thermisch irreparabel beschädigt. Die Gefährdungen können dramatische Auswirkungen haben. Nicht auszudenken ist die Brandgefahr, wenn sich Netzstationen in diesem Bereich in Gebäuden befinden. Deshalb ist ein verantwortungsvoller Umgang mit diesem Thema unumgänglich.
Sören Sturm
Vielen Dank an Sören, für den interessanten Beitrag mit Klärungsprotential. Aus unserer Sicht führt ein voll-redundanter Abgangsschutz mit kommunikativer Rückkopplung in eine Schalterversager-Schutzfunktion des Schutzrelais in der Einspeisung zum Ziel. Damit wäre die 3. Variante gepaart mit voll-redundantem Abgangsschutz zu empfehlen.
Wie löst Ihr die Problematik in Euren Anlagen ? Wenn Ihr Lösungen, Ideen oder Anregungen habt dann schreibt uns bitte eine Nachricht: info@engineering-academy.online
HERZliche Grüße, Deine ENGINEERING ACADEMY
PS: In unserem Online-Training "Distanzschutz Grundlagen" gehen wir auf weiteren Möglichkeiten zum Schutz von Netzen ein. Informationen zu unserem Online-Training: "Distanzschutz Grundlagen" findet Ihr hier.
Reaktionen auf den Beitrag
Folgende Leserpost haben wir nach Veröffentlichung dieses Beitrages erhalten (anonymisiert):
Leser 1 schrieb:
Sehr geehrte Kollegen, Mein Lösungsvorschlag lautet wie folgt:
1. Ein einfaches (preisgünstiges) aber zuverlässig arbeitendes UMZ-Relais als „Zweitschutz“ im Abzweig,
- Wirkt nicht auf Auslösung des Abzweig-LS sondern gibt ansprech-zeitverzögert- (max. wirkende gerichtete Endzeit eines Abzweiges + 0,5s) ein Signal auf eine Schleifenleitung, z.B. auf jene welche für den RVSSS bereits vorhanden ist
2. Im Abzweigschutz des Trafos (DIST bzw. UMZ) wird eine di/dt-Stufe aktiviert welche auf ca. 50% bis 75% des minimalen 2-poligen Kurzschlussstromes eingestellt wird.
- Mit Detektion dieses „Stromsprunges“ wird ein Wirkzeitfenster von ca. (max. tger + 1,0s) geöffnet.
- wenn in der letzten halben Sekunde dieses Wirkzeitfensters das Signal des Reserveschutzrelais auf dieser Schleifenleitung noch vorhanden ist dann erfolgt eine LS-Auslösung des Einspeisetrafos.
Zus. Anmerkung: Im Falle von zwei auf der Unterspannungsseite galvanisch getrennt betriebenen Transformatoren (ist meist üblich) erreicht man damit eine (lastunabhängige) eindeutige Selektivität da nicht anzunehmen ist, dass auf beiden getrennt betriebenen Transformatoren zum gleichen Zeitpunkt ein derartiger „Stromsprung“ erfolgt. – der eingestellte Stromsprung sollte eindeutig grösser sein als ein periodisch auftretender maximaler Lastsprung, dies sollte in der Mehrheit der möglichen Anwendungsfälle jedoch gegeben sein.
Leser 2 schrieb:
Hallo, dies ist ein Thema mit dem wir uns auch schon beschäftigt haben. Besonders Vorteilhaft ist schon mal die große Leistung (40 MVA) des einspeisenden Transformators und die geringe Halb-Ringlänge von 4 km. Unsere Herausforderung sieht nicht so komfortabel aus (32,5 MVA und 15 … 20 km). Als Lösung haben wir uns für einen zweiten redundanten UMZ-Abgangsschutz entschieden. Dieser wird aus der Kurzschlussleistung versorgt. (DSZW4+Sättigungswandler) und zweiter Auslösespule im LS. Risiko des primären LS-Versagen bleibt bestehen.
Des Weiteren gibt es wie beschrieben Schutzstationen mit einem eigenen Schutz und LS im Ring.
Zielführend wurde auf der Omicron-Anwendertagung 2018 ein adaptiver Schalterversagerschutz vorgestellt (Fa. Schneider). Dieser reagiert auf eine Sprungfunktion. Auch andere deutsch sprechende Hersteller haben diese Funktion im Angebot/Entwicklung.
Leser 3 schrieb:
Sehr geehrter Herr Muth, ich schätze ihre Seite sehr , da kompliziertes – oft sehr gut einfach und transparent dargestellt wird. Soweit ich weiß, löst Stromnetz Berlin – ehemals Vattenfall Berlin dies mit einem besonderen Schutzaufbau unter dem „ Stichwort – überlange Ringe“ ). Es kommen 2 Schutzrelais zum Einsatz , ein normaler UMZ Schutz und ein zusätzlicher Wandlerstrombetätigter UMZ Schutz je MS-Feld.
Mit diesen Schutzaufbau kommen Sie dem Problem der überlangen ringe bei ….
Ansonsten sind im Standard Ring UW 3 Stück 110/10 KV Trafos 31,5 MVA im Einsatz , wobei der Trafo A und B die Halbgruppen versorgen und der dritte Trafo Trafo R als Reserve zur Verfügung steht.
Ob die Schutztechnische Lösung auch bei sehr langen Überlandnetzen greifen würde, kann ich nicht einschätzen.
Leser 4 schrieb:
Hallo Kollegen,
lässt sich diesem Problem nicht mit der Aktivierung der Schieflastschutzfunktion in der Einspeisezelle des Umspanners beikommen? Im Regelfall (Normalbetrieb) beträgt die Schieflast nicht mehr als 10 – 20 %. Ein Einstellwert von I2> auf bspw. 30 % vom Nennstrom (im konkreten Fall auf 750 A) mit der entsprechenden Zeitverzögerung zum Hauptschutz würde in diesem konkreten Fall ausreichen um den stromschwachen 2 poliger Fehler sicher zu erkennen. I2 = (1/√3) x Ikmin (2pol) -> im konkreten Fall ca. 1,2 kA
Der Vorteil dieser Variante: Es bedarf keiner baulichen Veränderung, weder primär- noch sekundärseitig und spart somit Zeit und Kosten.
Anmerkung der Redaktion
Ein genialer Vorschlag der sich praktisch nicht durchsetzen kann, da die Schieflast bei zweipoligem Fehler nicht groß genug ist um eine sichere Anregung zu erhalten. Grund dafür sind die Fehlerwinkel bei zweipoligem Fehler. Wir haben hier mal die eintretende Schieflast bei zweipoligem Kurzschluss für unser Beispiel berechnet:
Wie wir sehen kann diese bei knapp unter 20 % liegen. Wenn wir nun einen Ansprechsicherheitsfaktor von wenigstens 1,5 berücksichtigen dann müssten wir auf 13 % Schieflast parametrieren. Dieser Anregewert wäre dann nicht mehr von betrieblich auftretenden Schieflasten zu unterscheiden. Dazu kommt: In unserem Beispiel gehen wir ja noch nicht einmal vom worst-case aus, die Verhältnisse können theoretisch noch ungünstiger liegen (siehe Kommentar von Leser 2).